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Was Hunde wirklich brauchen – statt Sitz und Platz

Wir leben eng mit unseren Hunden zusammen. Sie schlafen in unseren Wohnungen, begleiten uns auf Spaziergängen, lernen unsere Routinen, passen sich unserem Leben an – oft ohne Widerspruch. Doch wie gut verstehen wir sie eigentlich? Und wie oft verwechseln wir gut gemeinte Erwartungen mit echten Bedürfnissen?

Wenn wir uns nicht bemühen, Hunde wirklich zu verstehen, entstehen Missverständnisse. Und aus Missverständnissen wird schnell Stress – auf beiden Seiten. Hunde zeigen dann Verhaltensweisen, die für Menschen „problematisch“ wirken: Sie ziehen an der Leine, bellen, kauen Dinge an, schnappen vielleicht sogar. Wir interpretieren das als Ungehorsam oder Dominanz, dabei steckt häufig etwas ganz anderes dahinter: Überforderung, Angst, Frustration oder schlicht das Bedürfnis, sich wie ein Hund zu verhalten.

Frau und Hund sitzen Rücken an Rücken im Garten
Einfach sein dürfen. Für Hunde ist Sicherheit mehr wert als jedes Kommando.

Statt in die Kommunikation zu investieren, versuchen viele Menschen dann, das Verhalten zu kontrollieren. Mit Kommandos, mit Training, mit Regeln. Aber Kontrolle ist keine Beziehung. Und sie ersetzt nicht das Verständnis. Hunde sind keine kleinen Soldaten, die lernen müssen, sich brav in unsere Welt einzufügen. Sie sind fühlende Lebewesen mit eigenen Bedürfnissen, Interessen und Empfindungen – und sie brauchen unsere Bereitschaft, genau hinzusehen.

Was passiert, wenn wir das nicht tun?Dann fordern wir Dinge von unseren Hunden, die für sie keinen Sinn ergeben. Wir bringen Welpen „Sitz“ bei, bevor sie überhaupt wissen, wie man mit der Welt umgeht. Wir erwarten, dass sie „alleine bleiben“, ohne dass sie je gelernt haben, dass Alleinsein überhaupt sicher ist. Wir bezeichnen sie als „brav“ oder „schwierig“, abhängig davon, wie gut sie unseren Erwartungen entsprechen – nicht danach, wie es ihnen wirklich geht.

Es ist an der Zeit, umzudenken. Nicht Hunde müssen sich an unsere Vorstellungen anpassen. Wir sollten lernen, ihre Perspektive einzunehmen. Nur so schaffen wir echte Verbindung – und ein Zusammenleben, das auf Respekt und Verständnis basiert statt auf Gehorsam und Funktionieren.


Was Menschen typischerweise von Hunden erwarten

Hunde sollen im Alltag „funktionieren“. Sie sollen freundlich zu allen Menschen und Hunden sein, sich in jeder Situation benehmen, still im Café liegen, bei Tierarztbesuchen „brav“ sein und sich problemlos überall mit hinnehmen lassen. Ob Leinegehen, Alleinebleiben oder Autofahren – all das wird oft vorausgesetzt, fast so, als wäre es angeboren.

Autofahren ist ein gutes Beispiel dafür. Viele Menschen erwarten, dass der Hund einfach einsteigt, ruhig in der Box liegt und Autofahrten als selbstverständlich hinnimmt. Wenn der Hund aber zögert, jammert, sabbert, sich weigert einzusteigen oder sogar panisch wird, heißt es schnell: „Er muss da halt durch.“ Oder: „Da kann man nichts machen. Er muss das lernen.“ Und mit „lernen“ ist oft schlicht gemeint: Der Hund wird so lange in die Box gesetzt, bis er irgendwann aufhört zu protestieren.

Was dabei selten bedacht wird: Autofahren ist für viele Hunde eine extrem unangenehme oder sogar beängstigende Erfahrung – vor allem, wenn sie es nicht früh und positiv kennenlernen durften. Die Bewegungen, die Gerüche, das Ruckeln, das Eingesperrtsein in einer Box, die Geräuschkulisse, die mangelnde Kontrolle – all das kann Stress oder sogar Übelkeit auslösen. Dazu kommt: Hunde wissen nicht, wo die Fahrt hingeht. Vielleicht endet sie regelmäßig beim Tierarzt oder in einer Situation, die sie als negativ empfinden. Kein Wunder also, wenn sie sich dagegen wehren.

Doch statt diesen Stress zu erkennen und dem Hund durch langsames Gewöhnen und positive Verknüpfung zu helfen, werden viele Hunde einfach hineingezwungen. Es geht um Effizienz. Bequemlichkeit. Kontrolle. Der Hund soll bitte nicht auffallen und auf keinen Fall „kompliziert“ sein.

Aber was sagt das über uns aus – und über unsere Beziehung zu unseren Hunden? Wenn ein Kind weint, weil ihm im Auto schlecht wird, versuchen wir Lösungen zu finden. Wenn ein Hund sabbert und hechelt, erwarten wir, dass er sich „zusammenreißt“. Hier wird deutlich, wie stark wir dazu neigen, unsere Erwartungen über das Wohlbefinden des Hundes zu stellen. Und wie wenig Raum wir ihm geben, seine Welt mitzugestalten oder mitzuteilen, was ihm unangenehm ist.

Dabei ist genau das unsere Aufgabe als Bezugspersonen: Nicht nur „erziehen“, sondern begleiten. Verstehen. Sicherheit geben. Und dabei anerkennen, dass ein Hund kein perfekt anpassbares Wesen ist – sondern ein fühlendes, individuelles Lebewesen mit ganz eigenen Wahrnehmungen, Lernerfahrungen und Bedürfnissen.

Welpe schnüffelt auf einer Rampe im Garten
So lernt ein Hund: mit der Nase, mit Neugier – nicht mit ‚Sitz‘ und ‚Platz‘.

Was Hunde wirklich brauchen – aus Hundesicht

Hunde kommen nicht als „weiße Leinwand“ zur Welt, die wir beliebig beschriften können. Sie bringen genetische Anlagen, Temperament und ein hochentwickeltes Lernsystem mit – und ihr Gehirn entwickelt sich nicht auf Knopfdruck, sondern in Phasen, abgestimmt auf das, was in der jeweiligen Lebensphase wichtig ist.

In der Welpen- und Junghundezeit steht eines ganz oben: Die Erkundung der Umwelt.

In dieser Phase stellt das Gehirn genau die Kapazitäten bereit, die ein junger Hund braucht, um sich in der Welt zurechtzufinden. Es ist die Zeit des intensiven Beobachtens, Ausprobierens, Verknüpfens. Das Gehirn ist hochgradig plastisch – es verändert sich ständig durch Erfahrungen. Welpen lernen unglaublich schnell, was sicher ist und was nicht, was angenehm ist und was sie besser vermeiden. Man nennt das assoziatives Lernen: Der Hund verknüpft Erlebnisse mit Gefühlen. Etwas fühlt sich gut an? Das wird wieder aufgesucht. Etwas macht Angst oder ist unangenehm? Das wird künftig gemieden.

Und genau hier liegt ein weit verbreitetes Missverständnis im menschlichen Umgang mit jungen Hunden: Statt diese empfindliche Lernphase mit positiven Erfahrungen, sicheren Begegnungen und freier Erkundung zu füllen, wird oft möglichst früh mit „Training“ begonnen – also mit operanter Konditionierung: Der Hund soll Verhalten zeigen, das belohnt wird, oder Verhalten vermeiden, das ignoriert oder korrigiert wird.

👉 Operante Konditionierung bedeutet, dass ein Verhalten durch seine Konsequenzen beeinflusst wird – z. B. durch Belohnung (Leckerli) oder Strafe (Ignorieren, Abbruchsignal, Korrektur).

Es ist ein Werkzeug, das gezielt Verhalten formt. Aber: Es hat seine Berechtigung nicht in der sensiblen Phase der ersten Lebensmonate. Denn in dieser Zeit geht es nicht darum, Verhalten zu formen – sondern Vertrauen aufzubauen, Sicherheit zu vermitteln und dem Hund zu erlauben, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen.

Ein Welpe braucht nicht „Sitz“, sondern ein Gefühl von Kontrolle:

  • Darf ich entscheiden, wohin ich gehe?

  • Darf ich schnüffeln, beobachten, innehalten?

  • Reagieren meine Menschen auf meine Körpersprache?

  • Bin ich sicher, auch wenn ich mal etwas nicht gleich verstehe?

Was Hunde in dieser Phase brauchen, ist Raum zum Ausprobieren. Eine sichere Umgebung, in der sie Fehler machen dürfen. Bezugspersonen, die sie nicht kontrollieren, sondern begleiten. Und ganz viel Zeit, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert – nicht durch Signale, sondern durch echte Erfahrungen.


Sprache formt unser Denken – und unser Verhalten gegenüber Hunden

Worte sind nicht neutral. Sie sind nicht einfach nur Begriffe, mit denen wir etwas benennen. Sprache formt unser Denken – und damit auch unser Handeln. Wie wir über Hunde sprechen, sagt oft mehr über unsere Haltung aus, als wir glauben. Und manchmal merken wir gar nicht, wie tief wir in einer Denkwelt stecken, die eigentlich nicht zu einem respektvollen Miteinander passt.

Ein gutes Beispiel dafür ist das Wort „Kommando“. Es klingt militärisch, autoritär, nach Durchsetzung und Gehorsam. Wer ein Kommando gibt, erwartet, dass es befolgt wird – ohne Diskussion, ohne Zögern. Wer ein Kommando nicht befolgt, gilt als „ungehorsam“ oder „respektlos“.

Aber ist das wirklich der Umgang, den wir mit unseren Hunden wollen?

Wenn wir stattdessen von Signalen, Hinweisen oder Einladungen sprechen, verändert sich die Perspektive. Plötzlich geht es nicht mehr um Kontrolle, sondern um Kommunikation. Um Beziehung. Um Kooperation statt Unterordnung.

Auch Begriffe wie „brav“, „dominant“, „will mich testen“ oder „macht das mit Absicht“ sind Beispiele für Sprache, die mehr über menschliche Projektionen aussagt als über tatsächliches Hundeverhalten.

Sprache ist also nicht nur Ausdruck unserer Haltung – sie ist auch Werkzeug zur Veränderung. Wenn wir bewusst wählen, wie wir über Hunde sprechen, können wir auch bewusster mit ihnen umgehen. Wir öffnen einen neuen Raum: einen Raum, in dem Beziehung wichtiger ist als Gehorsam. Einen Raum, in dem der Hund mitgestalten darf, statt nur zu „funktionieren“.

Welpe im sensory garden schnüffelt zwischen Stangen in der Wiese
Kein Welpe der Welt braucht ein Kommando – er braucht Zeit, um die Welt zu entdecken.

Verantwortung beginnt bei uns – nicht beim Hund

„Er muss doch einfach brav sein!“

Dieser Satz fällt häufig. In Hundeschulen, beim Tierarzt, am Rande des Spazierwegs. Wenn ein Hund sich „daneben benimmt“ – also bellt, springt, zieht, zögert, sich weigert – dann heißt es schnell: Der Hund ist nicht gut erzogen. Oder schlimmer: Er hat „keinen Respekt“.

Aber was bedeutet „brav sein“ überhaupt?

Meist ist damit gemeint, dass der Hund sich still, ruhig, angepasst und unauffällig verhält – möglichst unabhängig davon, wie er sich fühlt. Keine Widerworte, keine Unruhe, kein Ausdruck von Stress. Doch ist das ein realistisches – oder gar faires – Ziel?

Hunde zeigen uns durch ihr Verhalten, was in ihnen vorgeht. Wenn ein Hund nicht mit ins Auto will, zögert er vielleicht, weil er sich dort nicht sicher fühlt. Wenn er beim Tierarzt zittert, hat er womöglich unangenehme Erfahrungen gemacht. Wenn er an der Leine zieht, will er vielleicht schlicht etwas anderes erkunden als wir. Das ist keine Respektlosigkeit – das ist Kommunikation.

Und genau hier liegt unsere Verantwortung. Nicht der Hund muss „brav“ sein. Wir müssen verstehen, was los ist. Wir müssen lernen, Körpersprache zu lesen, Emotionen zu erkennen, den Hund als fühlendes Wesen ernst zu nehmen und wir müssen dafür sorgen, dass unsere Hunde in möglichst vielen Situationen sicher, verstanden und begleitet werden.

Unsere Aufgabe ist nicht, „funktionierende“ Hunde zu formen. Unsere Aufgabe ist es, verlässliche, verstehende, mitfühlende Bezugspersonen zu sein. Und das beginnt damit, nicht „brav“ einzufordern – sondern zu begleiten, zu ermöglichen und zu schützen.


Schlussgedanken – Ein neues Miteinander beginnen

Was müssen Hunde wirklich wissen?

Die Antwort ist vielleicht viel einfacher, als wir denken: Sie müssen wissen, dass sie sicher sind. Dass sie gesehen werden. Dass sie mitreden dürfen. Und dass ihre Menschen bereit sind, sie zu verstehen – nicht nur zu erziehen.

Nicht jeder Hund muss „Sitz“ können. Aber jeder Hund sollte das Gefühl haben, dass seine Bedürfnisse zählen. Dass er sich ausdrücken darf. Dass sein Verhalten nicht ständig bewertet, sondern als Teil seiner Persönlichkeit verstanden wird. Hunde brauchen keine perfekten Trainer:innen an ihrer Seite. Sie brauchen Bezugspersonen, die bereit sind zu lernen – über den Hund und über sich selbst.

Wir dürfen umdenken. Weg von Erwartungen, die auf Funktionieren ausgerichtet sind, hin zu einer Beziehung, die auf Vertrauen, Respekt und echter Verbindung basiert.

Du musst kein perfekter Mensch sein, um ein großartiger Mensch für deinen Hund zu sein. Du musst nur bereit sein, zuzuhören und ihn so zu sehen, wie er wirklich ist: Ein kluges, empfindsames Wesen, das die Welt mit seiner Nase entdeckt – und dein Herz dabei ganz nebenbei auch.

💬 Was denkst du – was müssen Hunde wirklich wissen? Hast du selbst schon erlebt, wie Erwartungen an deinen Hund zu Missverständnissen geführt haben? Oder hast du einen Moment erlebt, in dem du die Perspektive deines Hundes plötzlich ganz anders gesehen hast? Ich freue mich, wenn du deine Gedanken in den Kommentaren teilst. 🐾

Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, teile ihn gern mit anderen Hundefreund:innen – vielleicht hilft er auch ihnen, ihre Hunde mit neuen Augen zu sehen.

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